Im Zeitalter der Moderne erlebten Menschen zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Europa, wie die Faszination für technischen Fortschritt gleichzeitig zu persönlicher Entfremdung führte. Einerseits gab es Freiraum für die permanente Entstehung von neuen Ideen. Andererseits entstand frühzeitig die Ahnung, dass das Gefüge der Weltordnung den sozialen Widersprüchen unmöglich standhalten kann. Menschen waren hin-und-hergerissen zwischen sensationellen Entdeckungen und gesellschaftlichen Umbrüchen. Der Drang nach grenzenloser Erneuerung und Veränderung überholter Strukturen enthielt jenen Sprengstoff, der trotz des enormen Innovationspotentials letztendlich zu Zerstörung und Krieg führte.
Aus unserer gegenwärtigen Perspektive erscheint die Frage interessant, wie sich ein Mensch wie Arnold Schönberg (1874-1951) als einer der bekannten Erneuerer der Kunst der Moderne in Bezug zu diesen Entwicklungen im Zeitgeschehen positionierte.
„Kunst ist der Notschrei jener, die an sich das Schicksal der Menschheit erleben. Die nicht mit ihm sich abfinden, sondern sich mit ihm auseinandersetzen... Die nicht stumpf den Motor „dunkle Mächte“ bedienen, sondern sich in‘s Laufende stürzen, um die Konstruktion zu begreifen. Die nicht die Augen abwenden, um sich vor Emotionen zu behüten, sondern sie aufreißen, um anzugehen, was angegangen werden muss. Die aber oft die Augen schließen, um wahrzunehmen, was die Sinne nicht vermitteln, um innen zu schauen, was nur scheinbar außen vorgeht. Und innen, in ihnen, ist die Bewegung der Welt; nach außen dringt nur der Widerhall: das Kunstwerk.“
Auf Grund dieser Äußerung ist es naheliegend, in musikalischen Werken Arnold Schönbergs nach Spuren seiner „inneren Natur“ und seines Zeiterlebens zu suchen. Das erste der drei Klavierstücke aus op.11 von Arnold Schönberg, welches er in seiner ersten Fassung 1910 veröffentlichte, wird deshalb in seinen Motiven konsequent auseinandergenommen. Lassen sich durch eine solche Dekonstruktion Rückschlüsse auf Schönbergs persönliche Sicht zu diesen gesellschaftlichen Veränderungen ziehen? Die Einzelmotive des Klavierstücks werden als Eigenbewegungen auf ihren gestischen Gehalt hin erforscht. Dabei entstehen mehrere Szenen, die diese Zustände sinnlich zugänglich machen. So ist es möglich, sich mit der in diesem Musikstück gespeicherten Befindlichkeit konkret auseinanderzusetzen. Mit dem Bewusstsein heutigen Erlebens treten wir in Dialog zu einem wegweisenden Komponisten der Moderne und fragen, inwieweit seine Ideen gegenwärtig noch aktuell sind. Um diese künstlerische Recherche nachvollziehbar zu gestalten, wird das ursprünglich zweiminütige Klavierstück durch szenische Bearbeitungen auf eine Zeit von einer Stunde ausgedehnt.
„Es ist geradezu unsere Pflicht, über die geheimnisvollen Ursachen der Kunstwirkungen immer wieder nachzudenken. Aber: immer wieder von vorne anfangend; immer wieder von neuem selbst beobachtend und selbst zu ordnen versuchen. Nichts als gegeben ansehend als die Erscheinungen. Die darf man mit mehr Recht für ewig ansehen als die Gesetze, die man zu finden glaubt.“
„Ich glaube nicht an den Goldenen Schnitt. Mindestens aber glaube ich nicht, dass es das einzige formale Gesetz für unser Schönheitsempfinden ist, sondern höchstens eines unter vielen, unter unzählig vielen. Ich glaube also nicht daran, dass ein Satz unbedingt so oder so lang werden muß, nicht länger und nicht kürzer; dass ein Motiv als Keim des Ganzen betrachtet, diese ein Motiv, als Keim des Ganzen betrachtet, diese eine, einzige Ausführungsform nur zugelassen hätte… Aber an etwas anderes glaube ich. Nämlich, dass jede Zeit ein bestimmtes Formgefühl hat, das ihr sagt, wie weit man in der Ausführung einer Idee gehen muss, und wie weit man nicht gehen darf…“ Der erste Teil dieser Auseinandersetzung war am 12.7.2014 im Exploratorium Berlin zu erleben sein.
Musikalisch und szenische Darsteller:
Sabine Lippold (Wiesbaden) - Tanz & Bewegung
Katrin Schafitel (München) - Tanz & Bewegung
Kathrin Sertkaya (Dresden) - Flöte
Hui-Chun Lin (Berlin) - Cello
Martin Braun (Potsdam) - Geräusche & Klänge
Ole Schmidt (Frankfurt/M.) - Bassklarinette
Kace Kaufmann (Arnstadt) - Vibrafon & Perkussion
Andreas Nordheim (Zwickau) - Kornett & Piano
andreas-nordheim.de