Uraufführung »Freiwillige Selbstkontrolle« von Philip Bartels
im Helmhaus Zürich (20.10.2015)
Simone Keller: Clavichord, monophonen Synthesizer, Sequenzer und Gitarren-Effekt-Pedale
Die Komposition verarbeitet Motive aus Mozarts Oper „Idomeneo“ (1781) und aus der Pornofilmmusik der späten 70er und frühen 80er Jahre. In der Ausstellung „Das Dreieck der Liebe – Körperlichkeit und Abstraktion in der Zürcher Kunst“ zeige sich „wie Zürich schon immer besonders verklemmt und besonders liberal war“ schreibt Kurator Michael Hiltbrunner. Walche, Sternen, Roland, Stüssihof – Orte, die m.E. exemplarisch für diese Mischung aus verrucht und verklemmt stehen und deren Name noch immer vielen bekannt ist, obwohl die freie Verfügbarkeit von Pornographie im Internet der Branche schwere Zeiten beschert hat und im Stüssihof im Niederdorf mittlerweile nachmittags Kinderfilme laufen. Bei näherer Betrachtung der Genres fällt auf, dass sich Oper und Pornofilm – bei aller stilistischen Unterschiedlichkeit – in ihrer Dramaturgie meist sehr ähnlich sind: Eine simple, oft an den Haaren herbeigezogene Geschichte dient als Aufhänger für das Absolvieren verschiedener Soli, Duette, Terzette... Der dürftige Handlungsrahmen wird zugunsten des wesentlichen Treibens (Arie, Geschlechtsakt, Chor) angehalten und erst im Anschluss daran weitergeführt. Bei der Besetzung der Protagonisten kommt es deshalb häufig nicht auf deren darstellerischen Fähigkeiten, sondern vor allem darauf an, ob sie stimmlich bzw. körperlich gut bestückt sind. Aus der musikalischen Auseinandersetzung mit „Körperlichkeit und Abstraktion“ im Sinne der Zürcher Ausstellung – die in ihrer Auswahl auch vor schroffen und plakativen Gegensätzen nicht zurückschreckt – ist also eine Beschäftigung mit Opern- und Pornofilmmusik geworden. Da das in Frage kommende Material bei dieser Ausgangslage natürlich in beiden Genres uferlos ist und sich auch die Ausstellung explizit auf Zürcher Kunst bezieht, habe ich mir eine Beschränkung auferlegt und mich bei der Auswahl der verwendeten musikalischen Motive auf Zürich und auf den Tag der Geburt der Widmungsträgerin bezogen und also ausschliesslich Musik verwendet, die nachweislich an diesem Tag in Zürich zur Aufführung gelangte. Der Veranstaltungskalender im Archiv von NZZ und Tagesanzeiger verzeichnet am nämlichen Datum:
„Cinebref: Libido Mania – alle Abarten dieser Welt (ungl’lich, schockierend, skandalös), Opernhaus: Idomeneo (W. A. Mozart, Leitung: Nikolaus Harnoncourt), Roland: Intime Illusionen (eine Hure jagt einen Räuber mit einem Polizisten), Walche: Slip up (attraktiver amerikanischer Sexfilm)“
– womit das zugrunde liegende musikalische Material umrissen ist, das an genau diesem Sonntag – wenige Wochen vor den Opernhauskrawallen – in Zürich zu hören war. Die Pianistin spielt dabei sowohl auf einem Tasteninstrument, das dieser Zeit entstammt (das Synthesizer-Modell MS-20 wurde zwischen 1978 und 1983 hergestellt), als auch auf einem aus dem 16. Jahrhundert. Bei beiden Instrumenten handelt es sich um Reproduktionen: Der MS-20, der sowohl in der experimentellen Musik als auch in der der Unterhaltungsbranche in zahllosen Aufnahmen für den typischen „80er-Synthie-Sound“ verantwortlich ist, war über 30 Jahre nach seiner Erfindung wieder so beliebt und gesucht, dass sich der Hersteller 2013 zu einer Neuauflage entschied, das Clavichord war bereits zur Entstehungszeit von Mozarts „Idomeneo“ ein Vintage-Instrument... Der Titel der Komposition bezieht sich nicht nur auf die Altersfreigabe von Filmen (FSK 18), sondern auch auf eine Passage im zweiten Teil des Stückes, bei der die Interpretin angehalten ist, das Tempo des Sequenzers so lange zu steigern, bis sie ihn nicht mehr „begleiten“ kann und sich also selber so lange
kontrollieren muss, bis sie die Kontrolle verliert.
(Philip Bartels, 2015)